Installation/2011
Die Texte auf den Kirchenbänken
Die gesamte Geschichte der Menschheit befindet sich in den Körpern der Menschen, zusammen mit den persönlichen Erinnerungen. Beim Aktzeichnen findet eine Begegnung zwischen einem nackten, schutzlosen Modell und dem Zeichner statt. Zwei Geschichten vermischen sich. Auch wenn der Zeichner die Augen schließt, kann er die Anwesenheit des Modells fühlen und zeichnen. Doch die Geschichte des Modells kann vom Zeichner nur so wahrgenommen werden, wie es dessen eigene Geschichte zulässt. Er sieht mit seinem Auge, fühlt mit seinem Körper und was durch die Hand des Zeichners seinen Körper verlässt und auf dem Zeichenpapier landet, ist das Resultat dieser einmaligen Begegnung zwischen diesen beiden Menschen.
Sehe ich Bilder von Gefangenen in Sibirien, in Konzentrationslagern, von Menschen in Erdbebengebieten, denke ich zuerst an das Leiden ihrer Füße oder genauer gesagt, stelle ich mir meine eigenen in dieser Situation vor. In Sibirien wären meine Füße gleich am Anfang erfroren, im KZ hätten meine Füße Krankheiten bekommen, sie wären sofort bei der Arbeit wund geworden, ohne meine Einlagen wären die Schmerzen bis ins Knie gekrochen, auf einer Flucht hätten meine Füße zuerst versagt. In Holzschuhen wären ganz schnell Hühneraugen gewachsen, deren Schmerzen mich um den Verstand gebracht hätten. Bei all diesen menschlichen Dramen gelangt mein Mitgefühl durch die Füße in mein Herz.
Manche Städtenamen haben eine Aura, die ich ihnen verleihe. Vielleicht wollte ich schon immer mal hin, wie nach Buines Aires wegen der Tangotänzer in den einfachen Stadtvierteln am Sonntagnachmittag. Höre ich Buines Aires, weht die Farbe dieser Sehnsucht mit. Höre ich Schwerin, denke ich an die Flüchtlinge, denen aber gleich die Erinnerungen an die sonnigen Schulreisen oder die Silvesterfeier mit lieben Freunden folgen. Aber was auch immer an angenehmen Erinnerungen kommt, zuerst verbinde ich Schwerin mit den Flüchtlingen. Hier in dieser Kirche lagen sie ohne Decken auf den Bänken, einfach so. Zu der Zeit war ich ein kleines Kind in Thüringen, aber diese Erinnerung befindet sich trotzdem in meinem Körper, durch die Erzählungen meiner Tante, die damals in Schwerin als Flüchtling lebte. Ich war als Kleinkind nicht in der Lage, Fakten zu begreifen und Schlussfolgerungen zu ziehen, was aber wohl meinen Körper als Kleinkind erreichte, war der Schmerz in ihrer Erzählung, der Schrecken, der mitschwang, die Angst im Klang der Worte Flüchtling und Schwerin.
Wir lebten bei Kriegsende als Flüchtlinge tief im Thüringer Wald. Da meine Großmutter ihre Jugend in Georgien verbracht hatte, sprach sie fließend Russisch und hielt damit die hungrige Familie über Wasser, indem sie für die russische Armee dolmetschte.
Manchmal besuchte uns ein russischer Offizier, der in Russland auch ein kleines Baby hatte, wie ich eins war. Ich wiederum hatte keinen Vater, der war vermisst. So ergänzten wir beide uns. Der Offizier warf mich in die Höhe und brachte mich zum Lachen bis ich schwitzte. Eines Abends klopfte in der Dunkelheit ein von ihm gesandter Soldat an die Tür und reichte meiner Großmutter etwas Weiches mit den Worten:“Fürr Kind!“ Es war in Stoff eingewickeltes Fleisch. Das wurde zubereitet und verzehrt, der fleischsaftgetränkte Stoff aber wurde gewaschen und daraus ein Kleid für mich genäht.
Meistens liegen meine Zeichenblätter auf anderen Blättern als Unterlage. Lange beachtete ich diese Unterlagen gar nicht, sondern schmiss sie, wenn sie ausgedient hatten, weg. Dann plötzlich interessierte mich das, was über das Zeichenblatt hinausging, das Ignorierte, das Verachtete, das im Müll Gelandete. Das Bild selbst war weg, sorgsam aufbewahrt in einer schützenden Mappe oder hing irgendwo an der Wand. Auf den „schmutzigen“ Unterlagen hatte es nur die Trennlinie hinterlassen, man kann an ihr erkennen, wo das Bild aufhörte und die Unterlage begann.
Beim Erzählen von Familiengeschichten wird ein Bild von dieser Familie gemalt, das Bild, das man sehen soll. Je älter ich werde, desto mehr achte ich darauf, was dieses Bild umgibt, auf die Unterlage, den Hintergrund, auf dem es entstand.
Was wurde mir wann erzählt? Warum gerade in diesem Moment und nicht früher oder später? Warum bekamen drei große Fotos viel Platz im über Grenzen hinweggeretteten Familienalbum, wenn nur „Irgendjemand“ auf diesen Fotos war? Welche Rolle spielten diese Menschen im Leben meiner Mutter? Warum soll ich das nicht wissen? Warum ihre traurige Stimme beim Erzählen über „die schönste Zeit meines Lebens“?